Die durch die Digitalisierung bedingte Transformation stellt Unternehmen vor enorme Herausforderungen. Für ganze Wirtschaftssektoren und Branchen ist dies der größte Wandel seit der Industriellen Revolution. Im Sog der Digitalisierung verändern sich Märkte schneller als je zuvor. Laut einer Studie des Global Center for Digital Business Transformation (DBT Center) werden sich schätzungsweise 40 % der Unternehmen der zwölf untersuchten Branchen in einem völlig veränderten Wettbewerbsumfeld wiederfinden, und zwar innerhalb der kommenden fünf Jahre. Digitalisierung greift in alle Bereiche von Unternehmen ein, auch in ihr kulturelles Selbstverständnis. Erfolgsentscheidend ist in erster Linie nicht die digitale Technologie, sondern die Wandlungsfähigkeit von Unternehmen. Nur ein systematischer Prozess befähigt Organisationen, die digitale Transformation schrittweise zu vollziehen und dabei Kundennutzen sowie Performance zu steigern.

Jeder Kunde ist heute digitaler Kunde. Kunden informieren sich online über Themen, Unternehmen und Produkte. Sie vergleichen Angebote, teilen Inhalte, bewerten Qualitäten, bestellen und empfehlen. Als Kunden erwarten wir dies 24/7, real time, quer über alle Kanäle – und das personifiziert. Unser digitales Verhalten hat die Art und Weise, wie wir uns informieren, uns Meinungen bilden und Entscheidungen treffen, stark verändert. Kunden wählen Anbieter nach Services und Preisen aus und sind rasch bereit, bisher geschätzte Anbieter zu wechseln. Stellen Sie sich vor, Sie möchten Accessoires für Ihre Wohnung kaufen, und suchen online nach Anregungen. Lässt sich jedoch die Seite eines Möbelhändlers nicht komfortabel bedienen – z. B. wegen schlechter Produktfotos, kleiner Auswahl, komplizierter Bedieneroberfläche –, steigen Sie blitzschnell aus und wechseln den Anbieter. Kunden- bzw. Markenloyalität aus Gewohnheit ist passé. Diese gibt es nur noch, wenn die digitale Performance für den Kunden stimmt. Die Digitalisierung hat den Kunden die Zügel in die Hand gegeben, sie entscheiden souverän und unmittelbar, hier und jetzt. Die Kunden geben den Takt vor und stellen Unternehmen vor große Herausforderungen. Mit jeder Kaufentscheidung wird auf Knopfdruck eine Kette an Prozessen quer durch das Unternehmen – oder sogar darüber hinaus – ausgelöst, damit alles im Sinne des Kunden funktioniert. Unternehmen, die auf der digitalen Klaviatur nicht mitspielen können, werden von Kunden und Wettbewerbern gnadenlos abgestraft.

Was wir unter digitaler Transformation verstehen

In vielen Unternehmen ist die digitale Transformation derzeit in aller Munde. Was jedoch darunter verstanden wird, ist meist recht unklar. Einige verstehen darunter digitale Technologien, andere reduzieren den Begriff auf ihren Webshop oder die Social-Media-Kampagnen. Bevor wir uns hier diesem Thema nähern, scheint eine begriffliche Klarstellung hilfreich. Das Institute of Brand Logic versteht unter der digitalen Transformation einen Veränderungsprozess für Unternehmen. Er wird ausgelöst durch die Digitalisierung und die damit verbundenen Implikationen für Unternehmen, mit dem Ziel, Kundennutzen und Performance zu steigern. In welchem Ausmaß die Digitalisierung eine Transformation erforderlich macht, hängt vom digitalen Unternehmensmodell ab. Und das ist für jedes Unternehmen anders.

Digitale Herausforderungen für Unternehmen

Zurück zum Beispiel des Möbelhandels. Sie als Kunde recherchieren vom Sofa aus auf Ihrem iPad verschiedene Designs, Trends und Preise. Produkte, die Ihnen gefallen, speichern Sie ab – vielleicht ja sogar auf einem Pinterest-Board. Sie fragen auch Ihre Freunde, Ihre Vorauswahl an Accessoires zu kommentieren und deren Tipps und Ideen zu teilen. Und schon stecken Sie mittendrin in dieser neuen Art der Suche, die außerhalb klassischer Marketing- und Retailkanäle verläuft. Sie genieren Ihre Ideen nicht im Möbelmagazin, nicht im TV, nicht in großen Möbelstores am Stadtrand. Dadurch sind Sie für den klassischen Möbelhändler nicht sichtbar, digitale Händler hingegen haben Ihre Fährte längst aufgenommen. Dank smarter Online-Analyse sind Sie längst auf seinem Radar aufgetaucht. Der digitale Händler weiß, was Sie suchen, welchen Stil und Geschmack

Sie bevorzugen. Er sieht, welche Produkte auf Pinterest-Pages und Facebook-Profilen geteilt werden. Er weiß auch, welche YouTube-Clips viele Views sammeln, und erkennt Interessenprofile – eher ein Landhaus-Typ oder ein Do-it-yourself-Kunde. Er kann all diese Daten interpretieren, kann ähnliche Interessen bündeln und auf typische User-Verhalten reagieren. Er kennt auch deren Demografie – vom Ausbildungsgrad bis zum Einkommen –, sodass er weiß, was Sie sich leisten können. Er spielt entsprechende Werbung aus und kann Angebote zusammenstellen, die auf Ihren Geschmack und Ihr Budget abgestimmt sind. Ein Großteil seines Marketingbudgets hat der digitale Händler in Online-Kanäle umgeleitet, er postet selbst auf Pinterest, gibt auf YouTube gute Tipps für DIY-Anwendungen, inter- agiert mit Nutzern auf Facebook  und  Twitter  und  hat  die Inhalte seiner Homepage optimal mit dem Social Web verzahnt. Er ist schon im Anfangsstadium nah an den Customer Journeys und kennt Interessenten bereits, bevor sie Kunden sind. Weil er Online-Verhalten, Suchmuster und Vorlieben kennt, kommt er klassischen Wettbewerbern zuvor, während jene ihre potenziellen Kunden noch gar nicht bemerkt haben.

Markus Webhofer

Was digitale Unternehmen auszeichnet

Digitalisierte Unternehmen ticken anders als klassische Unternehmen. Sie verfügen über ein anderes Set an Mentalitäten, Fähigkeiten, Daten, Prozessen, Strukturen etc. Was also zeichnet digitalisierte Unternehmen aus? Welchen Anforderungen müssen sie gerecht werden? Digitale Unternehmen atmen die Welt ihrer Kunden. Sie denken und handeln vom Kunden her, ihre Perspektive ist outside-in. Sie verstehen, dass ihr Markt durch die Erlebnisse der Kunden definiert wird, und arrangieren alle Kunden-

interaktionen konsequent entlang ihrer Customer Journeys. Und in Entsprechung mit diesen Anforderungen führen und organisieren sie das Unternehmen. Aus dieser Haltung heraus rufen sie interdisziplinäre Teams ins Leben, lösen funktionale Silos auf, integrieren die IT in das Marketing, investieren in Technologie, vertikalisieren die Wertschöpfungskette, bauen digitale Kompetenzen in allen Funktionen auf, docken externe Netzwerkpartner an etc. Geschwindigkeit ist für sie die entscheidende Größe im Wettbewerb, weshalb gute digitale Unternehmen völlig integriert sind. So verwundert es nicht, dass viele erfolgreiche digitale Player über keine eigenständige CIO-Struktur verfügen. Digitalisierung liegt in der Verantwortung des CEO mit Durchgriff auf alle Unternehmensbereiche und Prozesse. Eine funktionale Einbettung der digitalen Verantwortung ist unter dem Aspekt der Integration völlig kontraproduktiv. Es ist Aufgabe von Leadership, alles durch die Brille des Kunden zu betrachten und darauf aufbauend ein Unternehmen zu formen, das die Kunden auf die Bühne stellt.
Aber nur agile und effiziente Unternehmen sind in der Lage, diese Herausforderungen zu meistern. Kein Bereich des Unternehmens kann sich der Digitalisierung entziehen, alle sind betroffen. Agile Unternehmen sind flach organisiert, hervorragend integriert und vernetzt. Sie haben das Ohr am Kunden, treffen Entscheidungen nicht aus Bauchgefühl, sondern auf der Faktenbasis ihrer Daten, teilen Informationen, agieren und lernen. Digitale Player setzen rasch um. Es geht ums Tun, ums Experimentieren, ums Adaptieren und Lernen in kurzen, iterativen Zyklen. Ressourcen werden kurzerhand verlagert. Budgets werden erfolgs- und fortschrittsabhängig zugewiesen und auch abgezogen. Was funktioniert, wird gestärkt, was nicht funktioniert, wird eingestellt. Agilität und Flexibilität der Organisation sind entscheidend für die digitale Fitness. Die gelebte Kundenresonanz wird zum alles entscheidenden Gradmesser.
Klassisch fragmentierte Unternehmen mit ausgeprägten Hierarchien und einer traditionellen Führungsdenke sind damit überfordert. Ihre Kulturen – meist politisch, fehlerfeindlich und schwerfällig – stehen der Digitalisierung im Wege. Budgets werden einmal im Jahr geplant, Strategien blenden das digitale Thema aus und ignorieren die Kunden von morgen, Entscheidungen haben langwierig viele hierarchische Ebenen zu durchlaufen, Investitionen benötigen einen langen Planungsvorlauf, und das Führungsteam stellt die Relevanz der Digitalisierung immer noch infrage. Digitale Initiativen sind halbherzig, erschöpfen sich in isolierten Projekten, wie dem Webshop, einer App oder einer Social- Media-Kampagne. Für Unternehmen dieser Art wird der digitale Wandel nicht zu bewältigen sein.

Für digitale Unternehmen liegt der Schwerpunkt ihrer Wertschöpfung in Bereichen, die klassische
Unternehmen als Commodity betrachten – und umgekehrt (frei nach Alexander Graf, Spryker Systems).

Das Digitale ist das eine, die Transformation das andere

Jüngst zeigte Gartner in einer Studie, dass ca. 80 % der Unternehmen den digitalen Wandel nicht schaffen (Digital Business ist Driving Big Change, Garnter Research 2015). Aus zahlreichen Gründen, denn das digitale Geschäft setzt in Organisationen neue Assets, Fähigkeiten und Mentalitäten voraus. Kein Wunder, dass mit der Digitalisierung das Thema »cultural change« wieder in aller Munde ist. Der Bedarf an Veränderung ist für die meisten Unternehmen so umfassend und tiefgreifend, dass sie um einen merklichen, einschneidenden kulturellen Wandel

nicht umhinkommen. Es ist nicht damit getan, neue Kundendaten zu sammeln oder neue technologische Tools anzuwenden. Es geht um das grundlegende Selbstverständnis, um die Art des Denkens und Arbeitens von Organisationen.
Diejenigen, die unter dem Begriff der digitalen Transformation lediglich digitale Technologien verstehen, irren gewaltig. Das Digitale macht 10 – 20 % aus, der Rest ist Transformation, also 80 – 90 %. Hier geht es um einen Wandlungsprozess eines Unternehmens, eine Metamorphose. Es geht darum, die Verhaltensmuster einer Organisation, ihrer Führungskräfte und Mitarbeiter, deren Fähigkeiten und ihre Art zu arbeiten zu verändern. »Cultural change« betrifft im Kern das Verhalten von Individuen und sozialen Gruppen in Unternehmen. Eine Unternehmenskultur kann man weder fixieren noch vorgeben, sie entsteht und wächst aus dem Kontext der Organisation. Kultur – oder besser das Verhalten von Menschen im Unternehmen – ist das Ergebnis, das aus dem Kontext der Organisation entsteht. Wer Kultur verändern möchte, ist gut beraten, den Kontext für Mitarbeiter neu zu gestalten – sprich Führung, Prozesse, Technologien, Arbeitsumgebung und -mittel, kommunikative Strukturen etc. zu verändern. Und genau das meint Transformation, also ein Prozess, um ein soziales System von Zustand A in Zustand B zu überführen. Darin schlummern jene Herausforderungen, die darüber entscheiden, ob Unternehmen ihre Potenziale auf den digitalen Märkten ausschöpfen können.
Viele Unternehmen, die den Pfad der Digitalisierung gehen, klagen über schmerzhafte Erfahrungen. Digitale Kompetenzen sind nur in kleinen Schritten zu erlernen, alles ist »learning by doing«. Aktivitäten an einer Stelle machen Lücken und Defizite an anderer Stelle offensichtlich. Junge Digital Natives treffen intern auf hartnäckigen Widerstand, die Verzahnung von Marketing mit Produkt und IT geht schleppend voran, interne IT-Kapazitäten sind unzureichend, nur wenige beherrschen den Umgang mit neuen Technologien, brauchbare Kundendaten und Analysewerkzeuge sind erst im Aufbau, die Zusammenarbeit der multifunktionalen Teams läuft suboptimal, Budgets laufen aus dem Ruder, Leads und Conversion Rates lassen sich nur langsam steigern, und die Returns-on-Investment lassen auf sich warten. Und all das passiert irgendwie gleichzeitig, ungeordnet und chaotisch. Für Unternehmen ist das ein »muddling through« im digitalen Dschungel. Das gleicht einer Floßfahrt auf Stromschnellen in einem Fluss, den man nicht kennt. Der tatsächliche Transformationsbedarf wird meist erst auf halbem Weg bewusst. Doch trotz aller Schwierigkeiten, ein Faktum bleibt: Für viele Unternehmen ist die Fähigkeit zur digitalen Transformation längst eine zentrale Überlebensfrage im Wettbewerb.

Digitale Transformation braucht systematischen Prozess

Von der Art des Prozesses hängen Kosteneffizienz, Geschwindigkeit und am Ende der Erfolg des digitalen Vorhabens ab. Viele Unternehmen beklagen fehlende Systematik im Prozess der digitalen Transformation.
Für ein geeignetes Prozessdesign ist wesentlich, dass die Erfolgsmuster digitaler Unternehmen auch auf den Transformationsprozess selbst Anwendung finden. Das Design soll einerseits integrativ, agil und innovativ angelegt werden und andererseits dem Erfordernis nach Systematik und Transparenz Rechnung tragen. Da Digitalisierung alle Bereiche des Unternehmens umfasst, sind solche Prozesse unternehmensweit und interdisziplinär anzulegen. Deshalb ist empfehlenswert, einen repräsentativen Querschritt von Mitarbeitern und Führungskräften sowie externe digitale Experten und Netzwerkpartner – den sogenannten digitalen Mikrokosmos – in diesen Prozess zu integrieren. Aus der Integration entstehen Wissen und Commitment zum digitalen Weg und der gemeinsame Wille zur Umsetzung. Dabei ist aber wesentlich, strategisch digitale Weichen im Führungskreis vorab zu klären, wie z. B. das geeignete Geschäftsmodell. Viele Unternehmen erfahren leidvoll, dass diese Form der Veränderung nicht top down über die Kaskade in das Unternehmen geführt werden kann. Ein traditionelles Verständnis von Veränderungsprozessen führt hier nicht zum Ziel.

Wie sich die digitale Transformation angehen lässt

Die digitale Transformation benötigt die Erneuerung von innen, eine Art soziale Bewegung, die aus dem Unternehmen heraus entsteht. Es geht um die Frage, wie die Energie der Menschen im Unternehmen mobilisiert und freigesetzt werden kann. Die Veränderung entsteht aus dem Unternehmen heraus, Schritt für Schritt aus dem lernorientierten Dialog, dem Experimentieren und Tun. Ein kollektiver Prozess ist zudem in der Lage, die Kultur und das soziale Verhalten des Unternehmens zu verändern – anders ist das nicht zu kriegen. Zur Transformation des Unternehmens ist es aber unzureichend, nur eine digitalisierte Zelle mehr oder weniger isoliert in das Unternehmen zu setzen, dort digitale Lösun-

gen zu erarbeiten und den Rest der Organisation außen vor zu lassen. Je früher die Verschmelzung von externen, digitalen Ressourcen und dem Unternehmen gelingt, desto besser. Eine isolierte Betrachtung blockiert die Transformierbarkeit des Unternehmens von vornherein. Das Prozessdesign hat sicherzustellen, dass verschiedene Disziplinen und Fähigkeiten in kurzen, iterativen Zyklen miteinander in Dialog treten. Gemeinsames Erkunden, Reflektieren und Experimentieren ermöglichen rasches Lernen und produzieren rasch sichtbare Fortschritte. Multifunktionale Teams und digitale Experten interagieren laufend, eng vernetzt. Wer glaubt, dass man digitale Themen in sogenannten Tech Hubs irgendwo auf der Welt auslagern und das alles über seine Governance Structure koordinieren und einfangen kann, ist auf dem Holzweg. Prozesse zur digitalen Transformation benötigen kurze Wege, heterogene Teams, iterative Zyklen der Interaktion, »test and learn«. Das schließt nicht aus, kleine Expertenteams auf der grünen Wiese – also ohne Einbindung in die bestehende Organisation – an technischen Lösungen arbeiten zu lassen. Welches Transformation-Setting jeweils geeignet ist, kann man nur von Fall zu Fall beurteilen. Entscheidend jedoch ist, dass die Schnittstellen zum Unternehmen aufmerksam gemanagt und externe, digitale Experten und Ressourcen sukzessive intern verankert werden. Am Ende müssen digitale Kompetenzen im Unternehmen eingebettet sein, damit die Transformation gelingt. Für das Design von digitalen Transformationsprozessen leiten uns drei wesentliche Fragestellungen, um Unternehmen wirkungsvoll und effizient durch diese Reise zu führen:

Warum benötigt Ihr Unternehmen digitale Transformation?

Was genau soll digital transformiert werden?

Wie machen wir diese Transformation?

Um den Weg der Digitalisierung systematisch und geordnet zu beschreiten, schlägt das Institute of Brand Logic ein Prozessdesign entlang dieser Fragen vor.

Digital Fitness Check schafft das Bewusstsein

Hier geht es darum, der digitalen Veränderung im Unternehmen erst einmal den Boden zu bereiten, die digitale Realität der Organisation zu beleuchten und ein gemeinsames Bewusstsein dafür zu schaffen. Der »Digital Fitness Check« sollte folgende Dimensionen einer kritischen Würdigung unterziehen: digitales Kundenverhalten, verschiedene Customer Journeys, digitale Strategie und Geschäftsmodell, digitale Kompetenzen in allen Funktionen, digitale Fähigkeiten von Mitarbeitern und Top-Führungskräften, digitale Technologien und IT-Kapazitäten, vorhandene Daten und Analytics, digitale Prozesse und Strukturen sowie den Integrationsgrad der Organisation selbst und des Unternehmens im Ökosystem der digitalen, externen Netzwerkpartner. Ohne echte Einsicht und empfundene Dringlichkeit gibt es keinerlei Grund für Führungskräfte und Mitarbeiter, den digitalen Change zu vollziehen. Dieser »Discomfort« entsteht erst durch die gemeinsame, kritische Würdigung der digitalen Realität des Unternehmens, der Branche, des Marktes etc. Je direkter das für die Teilnehmer erfahrbar wird, desto stärker der Effekt. Lassen Sie Kunden intern sprechen, holen Sie digitale Experten ins Unternehmen, zeigen Sie auf, was in der eigenen Branche oder artverwandten Branchen passiert, und konfrontieren Sie Mitarbeiter mit Beispielen, Daten und Fakten. Oder noch besser, die Mitarbeiter selbst machen digitale Benchmarking Safaris, besuchen digitalisierte Unternehmen, sprechen mit Kunden oder durchwandern selbst die Customer Journeys. Oder das Führungsteam setzt sich einer digitalen Simulation aus und baute eine sogenannte Acceleration Solution Environment auf. Erlebnisse dieser Art erzeugen Betroffenheit und bieten unzählige Anlässe zur selbstkritischen Reflexion. Lücken und Defizite, Gefahren und Risiken sollen genauso beleuchtet werden wie mögliche Chancen und Potenziale für das Unternehmen. Dabei darf man die Führung, besonders die erste Ebene, nicht außer Acht lassen. Dort gibt es oftmals den größten Bedarf für ein neues digitales Bewusstsein. Ohne eine starke Führungskoalition hat die Digitalisierung wenig Chancen. Ein gemeinsam geteiltes, kollektives Bewusstsein über die Notwendigkeit der digitalen Ausrichtung entsteht insbesondere in interdisziplinären Dialogen.

Das Bild von der digitalen Zukunft gibt Orientierung

Wie soll die digitale Zukunft für das Unternehmen aussehen? Und was konkret soll transformiert werden? Im Zuge der digitalen Transformation tauchen für Unternehmen unzählige Themen irgendwie gleichzeitig auf, z. B.: Aufbau Omni-Channel, Redesign der Customer Journeys, neue IT-Frontline (Mobile, Websites, App), Aufbau Online-Marketing, Kundendaten und CRM, neue IT-Prozesse und KPIs, Restrukturierung der Funktionen, Integration aller Wertschöpfungsstufen, neue Services, Adaption des Sortiments. Die Praxis zeigt, dass viele Unternehmen dazu neigen, einfach loszulegen, ohne zu wissen, wohin die Reise führen und was in welcher Abfolge konkret angepackt werden soll. So kommen sie unweigerlich ins Straucheln. Und enden unweigerlich in digitaler Sisyphusarbeit.

Hier lohnt sich die Auseinandersetzung, ein digitales Zukunftsbild für das Unternehmen zu entwerfen. Die rasche technologische Entwicklung engt den Zeithorizont dafür ohnehin ein. Trotzdem ist es unerlässlich, ein digitales Zukunftsbild für das Unternehmen zu zeichnen. Welche Erwartungen stellen Kunden künftig an dieses Unternehmen? Welchen Mehrwert schaffen wir als Unternehmen? Welche »Customer Experience« bieten wir? Wie sieht die Interaktion mit Kunden aus? Wie sieht die digitale Strategie aus, wie das Geschäftsmodell? Wie stellen wir das Unternehmen auf, um das zu leisten? Welche digitalen Kompetenzen benötigen die Mitarbeiter, die Funktionen, die Prozesse? Diese Fragen können wohl kaum alleine in internen Meetings beantwortet werden. Das ist echte Knochenarbeit. Mit vielen Themen muss man sich Schritt für Schritt vertraut machen, indem man bspw. digitale Unternehmen besucht, die digitale Szene kennenlernt, digitale Experten in das Unternehmen holt, Szenarien entwickelt, die richtigen What-if-Fragen stellt etc. Um ein zuverlässiges digitales Bild zu zeichnen, sind Unternehmen gut beraten, sich Raum und Zeit dafür zu nehmen. Ist das Bild von der digitalen Zukunft des Unternehmens einmal entworfen, geht es nun darum, eine digitale Roadmap anzulegen und eine logische Abfolge der Schritte und Aktivitäten zu planen. Logik und Systematik sind das Gebot der Stunde. Ansonsten läuft man Gefahr, ob der vielen Themen und Interdependenzen den Überblick zu verlieren. Unternehmen tun gut daran, das Vorhaben in Scheiben zu schneiden und zu systematisieren. Je klarer es gelingt, diese Felder abzustecken und den Aktionsradius zu definieren, desto geordneter wird der Prozess der Umsetzung verlaufen. Das ist nun eine gute Basis, die ersten digitalen Initiativen im Unternehmen zu launchen.

Digitale Initiativen starten, Erfolge bauen und das Unternehmen erneuern

Für die Digitalisierung von Organisationen gibt es kein Patenrezept im Sinne von one size fits for all. Jedes Unternehmen hat eigene digitale Aufgaben und Herausforderungen zu lösen. Ein Prozessdesign und Setting zur Transformation kann nur spezifisch für ein Unternehmen angelegt werden. Nun sind drei große Herausforderungen zu bewältigen:

Sichtbare Ergebnisse schaffen

Möglichst viele digitale Erfolge und sichtbare Ergebnisse stärken die Schubkraft und Energie für die digitale Veränderung. Die Realisierung von digitalen Innovationen gehört genauso hierher wie der Aufbau von digitalen Basics (z. B. Technologie, IT-Kapazitäten, Data & Analytics, KPIs). Die Akkumulierung vieler kleiner Erfolge baut das Momentum für die Transformation.

Neue Strukturen etablieren

Interventionen struktureller und prozessualer Natur sind in der Lage, große Wirkungen zu erzielen – das schafft eine neue Realität im Unternehmen.  So kann die Einnistung eines digitalen Transformation-Settings enorm beschleunigen (z. B. digitale Zellen, neue Kooperationsplattformen mit Externen, digitale Competence Centers). Darüber hinaus geht es jedoch auch um die Abschaffung und Neugestaltung von organisatorischen Barrieren, die der Veränderung entgegenstehen (z. B. Auflösung von Strukturen, Reduktion von Hierarchieebenen, Zusammenlegung von Funktionen, Veränderungen im Management). Ohne strukturelle und prozessuale Erneuerungen bleibt die digitale Zukunft ein leeres Vorhaben.

Kritische Masse mobilisieren

Ob die Transformation des Unternehmens am Ende gelingt, hängt auch davon ab, ob eine kritische Masse im Unternehmen für die Digitalisierung mobilisiert werden kann. So ist es empfehlenswert, mehr und mehr Mitarbeiter im Laufe des Prozesses an Bord zu holen, mit digitalen Themen vertraut zu machen, miteinander zu vernetzen und zu involvieren. Möglichkeiten dafür gibt es viele, z. B. Einsatz von Dialogplattformen oder digitalen Botschaftern, Aktivieren von Netzwerken, Flash Mobs, Aufbau von Simulationsräumen etc. Um das Vorhaben der digitalen Transformation zu bewältigen, macht es Sinn, verschiedene Initiativen gleichzeitig zu setzen und zu koordinieren. Ein flexibler, interaktiver Prozess zur systematischen Verschränkung der digitalen Aufgaben, das richtige digitale Setting der Organisation und die Installation geeigneter Mechanismen verstärken die Wirkung und beschleunigen den Speed der Transformation um ein Vielfaches.

Launchen eines Schwarmprozesses im Unternehmen

Und trotz des Tempos ist der digitale Wandel kein Sprint, sondern eine Marathonaufgabe. Um die neue Mentalität im Unternehmen zu verstetigen, heißt es, konsequent weiter daran zu arbeiten. Das klappt nicht irgendwie neben dem Tagesgeschäft. Ein agiles, offenes Prozessdesign ist geeignet, um digitale Lösungen zu spezifischen Themen hervorzubringen. Der gesamte digitale Mikrokosmos des Unternehmens im weiteren Sinne (z. B. auch externe Kooperationspartner, Netzwerkpartner, interne Funktionen) ist hier integriert in diesem hochgradig interaktiven Umfeld. Interdisziplinäre, autonome Teams arbeiten an spezifischen Fragen, lernen und setzen um. Internes und externes Wissen wird hier zusammengeführt, damit die Integration der externen digitalen Szene (Start-ups, digitaler Experten, Tech Hubs auf der grünen Wiese etc.) mit den Mitarbeitern des Unternehmens gelingt. In kurzen, iterativen Zyklen tauschen sich die Teams zum Status ihrer Arbeit aus und setzen sodann ihre Arbeit wieder fort. Der Prozess ist frei von Hierarchie, das Entwickeln von digitalen Lösungen steht im Mittelpunkt. Das Design des Prozesses ist so flexibel wie möglich anzulegen, sodass alle relevanten Themen gespielt werden können. Ein Team könnte bspw. die Zusammenführung von Funktionen bearbeiten, ein weiteres Team designt die Customer Journeys oder legt die neue Dateninfrastruktur an, ein anderes baut einen »Simulation Reality Space« für Mitarbeiter und entwickelt digitale Trainingscamps für alle Kollegen etc.

Dieser Prozess ist in der Lage, die Schnittstellen zwischen der neuen digitalen und konventionellen Welt des Unternehmens zu schließen. Alle – Führungskräfte und Mitarbeiter der Funktionen, externe Experten und Netzwerke – bewegen sich in interdisziplinären Teams auf derselben Plattform. Interne Silos und Grenzen der Organisation lösen sich auf. Die kurzen Zyklen zur Abstimmung halten den Prozess absolut flexibel und zeigen Lücken frühzeitig auf. Wesentlich ist, dass dieser Prozess keinen rigiden Prozeduren folgt, sondern über digitale Prinzipien gesteuert wird. Solche Prinzipien könnten u. a. sein: macht Fehler, aber lernt rasch, realisiert quick wins, entscheidet selbst, seid agil, denkt outside in – vom Kunden her, arbeitet interdisziplinär, kollaboriert intern und extern, holt Wissen, wo nötig, organisiert euch autonom etc.

Weitere Mechanismen der digitalen Transformation können beispielweise im Lancieren neuartiger Kooperationsmodelle mit digitalen, externen Netzwerken in völlig offenen Systemen und Arbeitsumgebungen liegen. Oder Sie holen sich digitale Troublemakers ins Unternehmen, die aus Sicht der Kunden laufend auf digitale Defizite aufmerksam machen. Ein anderer Mechanismus bestünde darin, zur Finanzierung der digitalen Vorhaben intern einen Venture Fonds – mit der Mentalität eines Investors – ins Leben zu rufen, der Ressourcen je nach Erfolg und Fortschritt der Projekte investiert. So wären verschiedenen interne Initiativen miteinander in Wettbewerb.  Diese Agilität macht traditionelle Formen der Budgetvergabe obsolet. Oder Sie schaffen Simulationsräume im Unternehmen, die Mitarbeiter vor enorme digitale Herausforderungen stellen. Ein Unternehmen aus der Flugindustrie hat die Mitarbeiter vor die Aufgabe gestellt, die Flugzeuge nicht mehr in 15 Tagen voll zu warten, sondern künftig in zwei Tagen. Die Teams konnten alle Prozesse und organisatorischen Barrieren auf den Kopf stellen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Nach drei Wochen betrug die Wartungszeit pro Flugzeug weniger als zwei Tage, und das, obwohl zu Beginn alle die Unmöglichkeit des Vorhabens betont haben. Echte Simulationen erzeugen das Gefühl der Machbarkeit. Simulationen für digitale Entscheidungs- und Arbeitsprozesse in Unternehmen beschleunigen die Digitalisierung auf jeden Fall. Als Unternehmen könnte man bspw. digitale Labs einrichten, damit Mitarbeiter digitales Arbeiten erleben und kennenlernen.

Schaffen der digitalen Settings für die Transformation

Erst unlängst kündigte Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG an, dass er binnen eines Jahres 20 % der Mitarbeiter auf eine Schwarmorganisation umstellen wird (FAZ vom 24.09.2016). Frei von rigiden Hierarchien, werden Mitarbeiter dort miteinander vernetzt, agieren autonom über Abteilungsgrenzen hinweg und bereiten sich auf die zukunftsrelevanten Themen der Autoindustrie vor. Im Unterschied zum von uns skizzierten Prozess ist diese Struktur stabil und dauerhaft und kein temporärer Prozess mit verschiedenen Projektaufgaben. Ein geeignetes Setting schafft neue Realitäten im Unternehmen und beschleunigt den digitalen Wandel. Auch der Versuch einiger Unternehmen, sich mit Start-ups zu verschränken oder selbst Unternehmen im Unternehmen zu züchten, ist ein möglicher Zwischenschritt. Doch ist dabei zu beachten, dass über alldem die Frage steht, wie man Start-up-Mentalitäten in etablierte Unternehmen verpflanzt. Ziel muss es sein, das Unternehmen mit digitalen Fähigkeiten und Herangehensweisen zu verweben und zu vernetzen. Isolierte Inititativen oder entkoppelte Bereiche werden das nicht leisten können. Tech Hubs auf der grünen Wiese lösen die eigentliche Herausforderung nicht: Digitalisierung kann nicht ausgelagert werden. Jedes Unternehmen muss diesen Weg selbst gehen und digitale Fitness Schritt für Schritt aufbauen.