Peter Horvath, Partner am Institute of Brand Logic, trug selbst jahrzehntelang Führungsverantwortung im Retail. Um den Nebel des digitalen Wandels im Handel ein wenig zu lichten, wühlte er sich durch zahlreiche Studien und sprach mit alten Kollegen aus Vorstandsetagen österreichischer Handelsunternehmen.

Aus Fachartikeln, von Kongresspodien und in Beraterstudien pfeifen einem ja schon seit einiger Zeit ungezählte Buzz-words und digitale Hypes um die Ohren. Aber was wird wirklich anders, und was ist nur Gerede? Auf welche großen Themen müssen sich Retailer angesichts des digitalen Wandels konzentrieren?
Die reichlichen Studien zum Wandel des Handels beschreiben die Ausgangssituation recht einheitlich. Für Kunden ist digital normal. Die große Mehrheit der Käufer recherchiert heute online, bevor im stationären Geschäft gekauft wird. Während der Einzelhandel noch am Beginn der digitalen Transformation steht, bedient er also längst digitale Kunden.

Customer Experience wird der entscheidende Erfolgsfaktor

Wer sich als Händler differenzieren will, wird das über das Kundenerlebnis (neudeutsch: die Customer Experience) tun müssen. Sie wird – so prophezeit z. B. das Quarterly Digital Intelligence Briefing von Econsultancy und Adobe – bis 2020 den besten Preis als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal im Handel ablösen. So wird der Kunde künftig nicht nur besser informiert sein, sondern erwartet das auch vom Händler: Er soll seine individuellen Bedürfnisse kennen und ihm ein personalisiertes Einkaufserlebnis bieten.
Und die Retailer stellen sich darauf ein. 28 % erwarten, dass die Differenzierung vom Wettbewerb über die digitale Customer Experience läuft. Den Preis sehen nur noch 5 % der Retailer als relevanten Faktor. Dies deckt sich auch mit Ergebnissen von Forrester, die zeigen, dass Emotionen eine größere Auswirkung auf Kundenloyalität haben als rationale Erlebnisse wie Effektivität oder Komfort. Konsumenten, die emotional gebunden werden können, erzielen ein 23 %-Premium hinsichtlich Umsatz und Profit.

Auf dem Weg zur verbesserten (digitalen) Customer Experience zeichnen sich für Retailer vier große Handlungsfelder ab:

  1. Personalisierung der Ansprache,
  2. mobile Verfügbarkeit,
  3. Kulturwandel der Organisation,
  4. eigene Produkte und Services.

Personalisierung der Ansprache

90 % der Kunden recherchieren online, sind always on. Darum müssen Händler auch online mit ihren Kunden in Kontakt kommen. Und das nicht nach dem »Prinzip Gießkanne«, sondern mit personalisierten, relevanten und technologisch statt manuell gesteuerten Inhalten und Leistungen. »Die perfekte Customer Experience war auch schon in der Vergangenheit unser Anspruch«, sagt Georg Müller, Geschäftsführer von Deichmann Österreich im Gespräch. »In der Umsetzung jedoch gibt es dramatische Veränderungen, die Personalisierung der Kommunikation inklusive der Verknüpfung von on- und offline ist zu lösen. Hier die richtigen Leute mit entsprechendem Know-how zu haben, ist eines der wichtigen Themen.«
Die Herausforderungen für Handelsunternehmen sind dabei in der Tat hochkomplex. Kaum ein Gespräch, in dem CEOs nicht davon berichten, wie mühsam bei ihnen Kundeninformationen aus unterschiedlichsten Datentöpfen erschlossen werden müssen. Die sequenzielle Bearbeitung von Newsletter und Facebook mit Methoden der Old-IT reicht nicht mehr aus. Wer trotz sinkender Margen nicht in entsprechende Technologie investiert, riskiert seine Wettbewerbsfähigkeit. Den kurzfristigen Rückfluss der Investition erwartet dabei kaum noch einer: Es geht um Basisarbeit für zukünftigen Erfolg.

Die Schmuck-Handelskette Pandora sucht beispielsweise im Ausbau ihrer CRM-Programme den Erfolg. Im ersten Schritt wurden CRM-Systeme in der Gewichtung der Angebotsschwerpunkte in unterschiedlichen Märkten eingesetzt, zur Steuerung der Franchiseoperationen oder in der Optimierung von Visual Merchandising oder Marketing Promotions. Jetzt wird ganz im Sinne der »Customer Centricity« an der Kundenloyalität gearbeitet, loyalen Kunden möchte man »added value« bieten. Das Ziel: Jedem Kunden einen spezifischen, auf ihn zugeschnittenen Grund für den Kauf zu geben und für ihn den Prozess so angenehm wie möglich zu gestalten. Dabei wird die gesamte Kundenbeziehung personalisiert. Wenn eine Kundin in einen beliebigen Pandora-Shop geht, weiß der Verkäufer, wer die Kundin ist, was sie schon gekauft hat, woran sie interessiert ist etc. So soll Kundenbeziehung nachhaltig vertieft werden.

Mobile Verfügbarkeit

Bereits 45 % der Online-Käufe werden heute bereits mit mobilen Geräten getätigt. Gegenüber ausschließlich stationären Kunden konsumieren Mobile Shoppers um 66 % mehr. Und schon 40 % der Kunden geben an, dass sie mehr kaufen würden, wenn die Geschäfte besser auf mobile Anwendungen ausgerichtet wären. Dabei geht es längst nicht allein um Bestellmöglichkeiten, sondern um Services, die der Konsument im Laden nutzen kann: von mobilen Zahlungsoptionen über Nutzung der Kundenkarte und Check der Warenverfügbarkeit bis zur Reservierung von Artikeln. Nicht das Schaffen isolierter IT-Lösungen, sondern Inves-

titionen in die Infrastruktur, um digitale Kundenbedürfnisse bedienen zu können, ist deshalb von strategischer Bedeutung. Doch der Handel ist hier noch immer nicht sehr weit: 48 % der Unternehmer stufen ihre Fähigkeiten diesbezüglich als »nicht sehr fortgeschritten« ein, sagt die Studie von Econsultancy und Adobe. »Mobile ist bei uns zwar in aller Munde, die Priorität liegt derzeit aber noch in der klassischen Beratung, im Zusammenstellen der Outfits für Kunden im persönlichen Gespräch«, sagt ein Vorstandsmitglied einer österreichischen Handelskette – genau wie viele andere seiner Kollegen, mit denen wir sprachen.

Kulturwandel der Organisation

Ein Thema, das dem Leser von Studien nicht direkt ins Auge springt, aber ausnahmslos alle CEOs, mit denen wir sprachen, umtreibt, ist der notwendige Kulturwandel in den Organisationen. So sind agiles Denken und Handeln zentrale Erfolgsfaktoren für die Arbeit an der digitalen Zukunft, wie bereits das Beispiel der Programmierung zeigt. Wo früher allein sechs Monate für die Spezifizierung eines Pflichtenheftes verstrichen sind, wird heute schnell und ohne fertige Detaillierung oder Dokumentation anhand konkreter Prototypen entwickelt. Traditionellen Strukturen und Führungskräften fällt das, gerade im mittleren Management, sehr schwer. Diese neue Realität als das neue »Normal« zu umarmen, stellt Organisationen vor enorme Herausforderungen.
Die Otto-Gruppe z. B. hat sich vor einem Jahr entschieden, dieses Thema explizit und intensiv anzugehen. »Wir befinden uns mitten im Kulturwandel 4.0, des Wandels von Strategie, Kultur und der Prozesse«, sagt Harald Gutschi, Geschäftsführer der Otto-Tochter Unito.  »Die digitale Transformation ist die größte Herausforderung seit der Technischen Revolution. Viele Unternehmen verstehen bis heute nicht, dass es um kein neues IT-System geht, sondern dass der kulturelle Wandel die größte Herausforderung bei der digitalen Transformation ist.
Seit einem Jahr sind alle Mitarbeiter bei Otto per Du. Ein Beispiel für den Weg vom Ich zum Wir. Es sind viele kleine Schritte, die bei der digitalen Transformation helfen. Der Kulturwandel ist im vollen Gang, die Veränderungen kommen meist in Schüben.

Eigene Produkte und Services

Während noch vor einigen Jahren Lage und Auswahl entscheidende Erfolgsfaktoren des stationären Einzelhandels waren, besteht hier zwischenzeitlich kein Engpass mehr. Die Zahl belegter Einzelhandelsflächen ist rückläufig und lag 2015 auf dem Niveau von 2004. Experten deuten dies als »Beginning of the Beginning« des digitalen Zeitalters im Handel. Stattdessen werden Produkt- und Servicekompetenz zum wesentlichen Differenzierungsfaktor im Wettbewerb.

Einerseits: exklusive Eigenmarken vertikalisieren

Produkte bekannter Marken werden zu Commodities: schnell gegoogelt und dort gekauft, wo es am angenehmsten oder günstigsten ist. Dadurch schwindet die Exklusivität des Angebots vieler Retailer und macht sie austauschbar. Das Retail-Geschäftsmodell des Markensammlers verschwindet vom Markt – bzw. überlebt nur in der Nische. Zur wirksamen Differenzierung als Händler braucht es attraktive Eigen- oder Lizenzmarken, die Kunden online auf die eigene Website oder direkt ins Geschäft locken.

»Um diese Attraktivität zu erlangen, müssen die Eigenmarken jedoch wie die besten Herstellermarken geführt werden«, so Harald Gutschi. »Doch einzigartige Marken mit höchster Designkompetenz, entsprechendem Produktions-Know-how und relevanten Innovationen zu außergewöhnlichen Preisen zu beschaffen, ist eine enorme Herausforderung.« So investiert beispielsweise Otto in den Aufbau der Mode-Eigenmarke Lascana inkl. eigener Shops und Website. Die bekannte Marke Elefanten Schuhe wird erfolgreich und exklusiv bei Deichmann geführt. Peek & Cloppenburg betreibt viele erfolgreiche Private Brands (z. B. McNeal oder Review), deren Marketing sich von internationalen Marken nicht unterscheidet.

Andererseits: Differenzierung über personalisierten Service

Die Verbindung historischer Kundendaten mit jenen, die durch die digitalen Möglichkeiten entstandenen sind, ist ein kontinuierlicher Prozess, der Jahre dauert.
»In der Verbindung von On- und Offline-Services lernen wir ständig von unseren Kunden«, berichtet Manfred Kühner, Geschäftsführer von DM Österreich. Unsere Kunden suchen online deutlich stärker nach Lösungen für konkrete Probleme, z. B. Produkte für einen bestimmten Hauttyp oder Ähnliches. Für uns ist es sehr wichtig und hilfreich, diese Bedürfnisse unserer Kunden noch besser zu verstehen und Hinweise zur Verbesserung der Servicequalität in unseren Geschäften zu gewinnen. Die Kunden zu kennen, ermöglicht vielfältige Möglichkeiten, die Kundenbeziehung zu vertiefen. Beim Waschmaschinenverkauf gibt es beispielsweise nach Garantieablauf die Möglichkeit des Anbietens einer Verlängerung oder die Organisation von Waschmittel-Abos. Ersatzinvestitionen nach Ablauf der gewöhnlichen Nutzungsdauer können angeboten werden. Personalisierung im Service bedeutet die Transformation von Kundendaten in Kundennutzen.