In vielen Fachmedien, auf Konferenzen sowie in den Chefetagen der meisten Handelsunternehmen ist derzeit vom massiven Wandel im Handel, von Multichannel oder Omnichannel zu hören. Das Thema ist in aller Munde, und auf irgendeine Art und Weise beschäftigen sich bereits die meisten Unternehmungen damit.

Ist die Entscheidung gefallen, und Händler starten ihre Omnichannel-Initiative mit dem Ziel, ihren Kunden ein Seamless-Einkaufserlebnis zu bieten, sind in der Projektphase hochkomplexe Fragestellungen zu klären. Was jedoch fehlt, ist ein ganzheitlicher Prozess, der abseits von reinen Detaillösungen sicher in die Zukunft führen hilft. Doch das ist erfolgsentscheidend, da Omni­channel-Projekte hochkomplexe Eingriffe in die Leistungen, Struktur und Kultur existierender Unternehmen sind. Zu ihrem Gelingen braucht es einen klaren Entscheidungsrahmen für alle Beteiligten: die Marke. Das Markenprofil determiniert den Zweck des Unternehmens und definiert den Kundennutzen. In komplexen Fragestellungen sorgt die Marke für das Alignment aller Bereiche und schärft die Fähigkeiten und Kompetenzen der Organisation hinsichtlich der Kontaktpunkte auf die Marke.

Leider tappen in der Praxis stationäre Händler bei ihrer Transformation zu Omnichannel-Retailern immer wieder in typische Fallen. Und dies betrifft nicht nur Klein- und Mittelbetriebe, sondern auch die vermeintlich Großen.

Beispiel: Bedeutender Spieler im LEH
Die Aufgabe „online“ wurde isoliert betrachtet und als neues Medium dem Marketing lose zugeordnet. Nach den ersten Apps und Social-Media-Auftritten wurde ein eigenes Team in der IT-Abteilung mit diesem Bereich betraut. Dieses hatte sich ohne echte Anbindung an das Tagesgeschäft mit Spezialagenturen und guter Ressourcenausstattung besonders darum bemüht, neueste Technologien und Anwendungen, die für den Einkaufsprozess der Kunden keine Relevanz hatten, als Erster in der Branche auf den Markt zu bringen. Die Lösungen waren nicht auf den Kauf, sondern eher auf Promotion oder Branchen-PR ausgerichtet. Ohne strategischen Entscheidungsrahmen und Fahrplan wurde eine Initiative nach der anderen lanciert. Nach Einsatz vieler Mittel musste die Notbremse gezogen werden, und es erfolgte eine komplette Neuausrichtung. In der Zwischenzeit sind die Funktionen Online-Marketing und Online-Shopping klar zugeordnet und in einen strategischen Rahmen eingebettet. Wichtige Fähigkeiten mussten durch neues Personal beschleunigt werden. Eine gemeinsame, tragfähige technische Plattform wurde für unterschiedliche Marken des Händlers implementiert. Die Agenturpartner wurden deutlich reduziert und auf eine breitere inhaltliche Basis gestellt.

TYPISCHE FALLE NO. 1:
OMNICHANNEL WIRD FAST AUSSCHLIESSLICH MIT ONLINE ÜBERSETZT

Wie bei einem Tier, das seine Beute reißen will, verengt sich der Blick von Anfang an zu rasch und fast ausschließlich auf online. „Wir brauchen eine Online-Strategie, einen Online-Shop“ etc. In der Folge sind alle Überlegungen links und rechts davon ausgeblendet. Alle Energie und vor allem auch Ressourcen gehen in diesen Bereich. Es wird nicht überlegt, ob entlang der Customer Journey andere Kontaktpunkte und Leistungen mehr Relevanz hätten oder sogar überlegen wären. Die knappen Ressourcen werden oft großzügig im Online-Bereich verbraucht.

Nicht selten ist es so, dass sich eine kleine, interne Expertentruppe – abgekoppelt vom Geschäft – als Einäugige unter den Blinden ein kleines Reich aufbaut. Sie orientiert sich nicht an den Customer Journeys der eigenen und potenziellen Kunden, sondern lässt sich von Artikeln in Fachzeitschriften, Agenturen und anderen Informationsquellen treiben. Eine Integration entlang der Einkaufsentscheidungsreise ihrer Kunden findet nicht statt.

Empfohlene Lösung:

Mit den richtigen Fragen starten.

  • Entwickeln Sie im Kollektiv Omnichannel Customer Journeys für unterschiedliche Einkaufsanlässe von Kunden.
  • Identifizieren Sie Stärken und Schwächen ihrer Customer Journeys:  Finden Sie heraus, was Ihre Kunden begeistert und was sie enttäuscht – on- und offline.
  • Verschaffen Sie sich einen Überblick, welche Entwicklungen und Veränderungen durch neue Wettbewerber oder Lösungen zu erwarten sind.
  • Klären Sie, an welchen Kontaktpunkten Sie historische Erfolgsmuster Ihrer Marke mit zukünftiger Relevanz ausspielen, neu inszenieren und frisch halten können. Und vergessen Sie dabei den stationären Handel nicht!
  • Stellen Sie die Call-to-Action an den richtigen Kontaktpunkten sicher.

 

TYPISCHE FALLE NO. 2:
DER BRANCHE UNKRITISCH FOLGEN UND OUTSOURCING VON KERNKOMPETENZEN

Die Aufmerksamkeit in Organisationen liegt im Dunstkreis der kurzfristigen Ergebnisse der eigenen Branche. Besonders wenn unmittelbare Wettbewerber in Vorlage gegangen sind: „Die haben das schon, das benötigen wir auch.“ Und schon agieren Firmen nicht aus der Kraft der eigenen Marke, sondern aus branchenüblichen Leistungen. Doch Me-too reicht nicht, denn nachhaltige Wertschöpfung erzielen Sie nur mit relevanter Leistung, die sich vom Markt distinktiv absetzt. Auch kurzfristig verlockende Outsourcing-Strategien für die Gewinnung von Know-how, um das Tempo zu erhöhen und Fixkosten zu vermeiden, werden meist zum Eigentor. Nach einiger Zeit stellen Unternehmen fest, dass ihnen Kernkompetenzen und Insights fehlen. Besonders externe Experten mit Branchen-Know-how und vermeintlich erfolgreichen Referenzen erweisen sich hier als gefährlich. Oftmals versuchen sie lediglich, rasch skalierbare Lösungen zu verkaufen und das Eisen zu schmieden, so lange es heiß ist.

Empfohlene Lösung:

Aus dem eigenen Markenprofil gezielt in die Umsetzung gehen

  • Bauen Sie auf bestehenden Stärken Ihres Unternehmens auf.
  • Wer sind Ihre wirklichen Wettbewerber? Wer kann Ihre Leistungen substituieren? Wenn Sie sich selbst aus dem Markt nehmen wollten, wie würden Sie das machen?
  • Schielen Sie nicht auf vermeintliche Erfolgsbeispiele. Der Eindruck, „das Gras sei auf der anderen Seite immer grüner“, täuscht.
  • Entwickeln Sie relevante und wahrnehmbare Produkt- und Serviceleistungen aus den Erfolgsmustern der Marke und nicht aus der Technologie.
  • Fokussieren Sie auf die rasche Umsetzung erster relevanter Kontaktpunkte und Prototypen, um daraus zügig zu lernen und Verbesserungen angehen zu können.
  • Definieren Sie Sortimentsumfang und -architektur gezielt und nicht im falschen Wettrüsten. Vermeiden Sie un­nötige Komplexität, um die Kosten im Griff zu behalten.
Beispiel: Führender Warenhauskonzern
Als selbstverstandener Pionier im Online-Bereich hat diese Marke deutlich in Online investiert. Es erschien, dass das Engagement den globalen Wettbewerb im Auge hatte und nicht die eigene Marke. Diese war ohnedies schon unter Druck. Online könnte eine Flucht nach vorne gewesen sein. Sortimente und Artikelanzahl wurden sukzessive ausgeweitet. 140.000 Artikel und ein Zielumsatz im dreistelligen Millionenbereich. Gleichsam der Anzahl der Megapixel schien mehr besser zu sein. In der Folge sind die Komplexitätskosten zu stark gestiegen, während die Kundenanzahl bzw. Finanzen weitaus zu gering waren. Zu sehr schien die Marke in der traditionellen Handelswelt verhaftet, während das Engagement online sich mit fokussierten, spezialisierten Wettbewerbern „matchte“. Vor Kurzem wurde das Redimensionieren von Online angekündigt. Eine Fokussierung auf ­selektive Warengruppen steht im Mittelpunkt.

 

TYPISCHE FALLE NO. 3:
DEN STEIGENDEN KUNDENERWARTUNGEN NICHT RECHTZEITIG BEGEGNEN

Das traditionelle Wirtschaften im Handel erfolgt in Zyklen, gespeist von vielen Erfahrungswerten. „Store-Design-Erneuerungen alle sieben bis zehn Jahre, Neuauftritt der Marke mindestens so oft“ etc. Nach dem Abschluss der Projekte hatte man wieder für Jahre seine Ruhe. Der bisherige Fokus des Managements fußte in der Regel auf Optimierung eines bestehenden Rahmens.

Ähnlich war die Erwartungshaltung in den ersten Omnichannel-Projekten: „Wir haben doch gerade eine neue mobile Webpage mit Shop“ oder „Wir haben eine Pick-up-Station in Filialen“, hört man. „Wir haben gerade in eine gut funktionierende Storelösung investiert.“

Doch der technische Wandel verändert den Markt wesentlich rasanter, nicht kontinuierlich und weitaus unvorhersehbarer als bislang üblich. Die Schlagzahl an Produkt- und Service-Innovationen hat sich im Handel deutlich erhöht – und die Kunden nehmen diese auch an. So kommt es, dass es Händlern mit klassischen Entwicklungszyklen kaum gelingt, Schritt zu halten. Ihre Kunden wollen an unterschiedlichen Kontaktpunkten, bei allen Anlässen und in allen Phasen des Kaufprozesses das ideale Angebot erhalten: Wenn sie es nicht bei ihnen finden, stoßen sie dieser Tage schnell auf eine Fülle an Alternativen.

Empfohlene Lösung:

Denken als Dienstleister mit kontinuierlichem Verbesserungsprozess

  • Kalkulieren Sie ein, dass die Entwicklung zum Omni­channel-Händler jede Organisation zu einer Service- und Dienstleistungsorganisation mit starkem technischen Rückgrat machen muss.
  • Richten Sie den Blick konsequent von außen nach innen und überprüfen Sie regelmäßig und systematisch die eigenen Leistungen aus Kundensicht.
  • Optimieren Sie Ihre Leistungen mit der Brille des Kunden. Bewerten Sie den Projektfortschritt regelmäßig und fokussieren Sie auf markenstärkende Maßnahmen. (Bsp.: Mobile first: ja; Same Day Delivery: noch nicht).
  • Bauen Sie nicht nur auf Drei- bis Fünf-Jahres-Plänen auf: „Fail fast“: schnelles Testen (A/B-Testing), optimieren, kleine Schritte.

 

TYPISCHE FALLE NO. 4:
OMNICHANNEL-BUSINESS-PLÄNE SIND ZU OPTIMISTISCH

Führungskräfte von Handelsunternehmen spüren den Druck des Marktes und planen den Einstieg in die Omnichannel-Welt zu optimistisch. Oftmals werden eilig erste Teilprojekte initiiert, Budgetmittel von existierenden Projekten umgewidmet und bestehende Ressourcen neu allokiert. Wenn dann die gewünschten Erfolge der auf optimalen Annahmen basierenden Planungen nicht eintreten, wird rasch nachgebessert, während sich an anderer Stelle bereits die negativen Effekte der Opportunitätskosten zeigen (weniger Marketing, schlechtere Preise, veraltete Stores etc.).

Empfohlene Lösung:

Klare strategische Rolle früh definieren und im Geschäftsmodell verankern

  • Definieren Sie als Erstes die strategische Rolle des Themas Omnichannel für Ihr Unternehmen: Ist Ihr Ziel, die Position zu halten oder Wachstum zu generieren? Planen Sie eine horizontale Expansion oder die Konsolidierung in bestehenden Märkten?
  • Rechnen Sie sich Business Cases nicht schön. Omnichannel ist für klassische Händler Neuland: Um das zu erobern, benötigen Sie eher doppelt so viele Ressourcen um 50 % der erwarteten Ergebnisse zu erzielen.
  • Bereiten Sie „What if“-Szenarien ehrlich auf und sehen Sie Spielregeln für Dotierungen vor.
  • Definieren Sie ein Minimalniveau für andere wichtige Bereiche im Unternehmen.
  • Kalkulieren Sie in der Ressourcenplanung Fehlschläge proaktiv mit ein.
  • Machen Sie das heutige und das zukünftige Geschäftsmodell transparent.
  • Haben Sie Mut, Leistungen zu modifizieren oder zu streichen, um Komplexität zu reduzieren und Ihr Markenprofil zu schärfen.
Beispiel: Führender Elektronik-Store
Während zuerst lange Online negiert wurde, waren die internen Widerstände offensichtlich so groß, dass keine Integration von Online am stationären Kontaktpunkt erfolgte. Man verlor Marktanteile und das gute Preisimage an Amazon & Co. In der Folge wurde dann ein Online-Spezialist gekauft und beteuert, dass man damit einen Pure Player heranziehen würde. Inzwischen ist man angekommen, alle Aktivitäten unter zwei Marken des Hauses im Online-Bereich zu bündeln. Das mag zwar für die Economies of Scale bzw. die Suche bei Google relevant sein, aber was bedeutet das für die Spitzenleistungen und den guten Ruf der jeweiligen Marke? Die Technologie, Ressourcen und kurzfristigen Resultatüberlegungen dominieren die langfristige Strahlkraft der Marke(n).

 

TYPISCHE FALLE NO.5:
DIE ORGANISATION NICHT IN DEN CHANGE-PROZESS INTEGRIEREN UND FÄHIGKEITEN ZEITGERECHT ENTWICKELN.

Auf dem Weg zum Omnichannel-Händler fokussieren viele Unternehmen einseitig auf die Schaffung der technischen Voraussetzungen. Dabei ist vor allem die Entwicklung der notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen bei ihren Mitarbeitern zentral für den Erfolg. Denn Omnichannel-Projekte greifen derart quer durch alle Funktionen und in die gewohnten Abläufe eines Unternehmens ein, dass sie vor allem auch Change-Projekte sind, deren Erfolg statt nur vom „Was“ eben maßgeblich vom „Wie“ abhängt.

Unterschiedlichste Studien der vergangenen Jahre kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass rund drei Viertel aller Change-Initiativen aufgrund von Widerstand aus der Organisation, zu ­wenig Klarheit der Strategie oder nicht ausreichender interner Kommunikation scheitern. Im Falle von Omnichannel-Projekten zeigt sich dies an der mangelnden Befähigung der Mitarbeiter, ­inkompatiblen persönlichen Zielsystemen (Bsp.: Marketing-IT vs. traditionelle IT, Absatz im Stationären vs. Online) oder auch am ­zögerlichen Entfernen von Barrieren für Mitarbeiter.

Empfohlene Lösung:

Kollektive Transformation mit systematischer Verbreitung und Verankerung von Fähigkeiten und Kompetenzen in der Organisation.

  • Die Kunst des schnellen Wandels bzw. mit Scheitern umzugehen, wird zu einem Wettbewerbsvorteil.
  • Die Führung muss auf der persönlichen Ebene mit der Rolle, ein internes Vorbild zu sein, auch wirklich klarkommen.
  • Offene Kommunikation zu Ergebnissen und Scheitern schafft Mut und Lust auf Veränderung.
  • Dialog in unterschiedlichen Formaten zu den neuen Rahmenbedingungen für unterschiedliche Bedürfnisse in den Abteilungen und Teams etablieren.
  • Arbeitsgruppen effizient arbeiten lassen, aber auch den Blick aufs Ganze für alle Beteiligten sicherstellen.
  • Verankern in Zielsystemen und der Unternehmenskultur, z. B. Sanktionieren von von unerwünschtem Verhalten.
  • Evaluieren eines externen Partners, der den Rücken für das Tagesgeschäft freihält.
  • Anstellung von neuen Mitarbeitern mit Omnichannel-Erfahrung aus anderen Firmen.
  • Zeitgerechte Planung und Anpassung von Prozessen, Struktur und Fähigkeiten.
  • Nachziehen von Personalmanagementsystemen zur ­Sicherstellung einer kompatiblen Kultur.

Fazit

Wenn Sie insgesamt Ihren Weg als Führungsteam bzw. für die Organisation in fünf bis zehn Jahren kennen, ist es auch möglich, in einem Omnichannel-Kontext Schritt für Schritt zu dieser Zukunft zu gelangen. Anstatt nur einem Trend nach dem anderen hinterherzulaufen, muss man sich der eigenen Erfolgsmuster, der loyalen Kunden und aller relevanten und vielleicht schon existierenden Kontaktpunkte bedienen. Es ist vollkommen zulässig, nicht bei den Ersten zu sein, sondern mit weniger Risiko und Ressourcen sehr überlegt einzusteigen. Die Welt hat keinen Bedarf für zig Amazons. Kunden suchen Marken mit Spezifik und der Fähigkeit, diese Spezifik immer wieder frisch interpretiert vertrauensvoll ­erlebbar zu machen. Legen Sie Ihren Omnichannel-Initiativen in jedem Fall einen realistischen und flexiblen Businessplan zugrunde. Aber: Gar nichts zu tun, ist der falsche Schluss.

 

Zu den Autoren
Alex Pesjak (alex.pesjak@brand-logic.com) und Peter Horvath (peter.horvath@brand-logic.com) sehen die Konzentration auf Marke als Führungsinstrument als einen Schlüssel zur Bewältigung des digitalen Wandels im Handel.