Seien wir ehrlich: Trotz Peter Druckers Kultzitat »Culture eats strategy for breakfast« hat die aktive Arbeit an der Unternehmenskultur meist eher den Status einer Zusatzinitiative. Kultur ist nett, doch sich darum zu kümmern, schließt nur selten die Erwartung eines relevanten wirtschaftlichen Mehrwerts mit ein. Doch angesichts der enormen Veränderungen durch die Digitalisierung wird die aktive Kulturarbeit für traditionelle Unternehmen zu einer zentralen Aufgabe. Denn »digitale« Arbeitsweisen unterscheiden sich zum Teil erheblich von »traditionellen« Verhaltensmustern. Wo früher Perfektion zählte, ist nun Schnelligkeit gefragt. Wer früher Teams führte, muss morgen Netzwerke managen. Statt aus vergangenen Erfolgen Herangehensweisen für die Zukunft abzuleiten, gilt es nun, disruptiv zu denken und das eigene Handeln täglich aufs Neue zu hinterfragen. Statt durch ein stabiles Umfeld mögliche Unruhe im Team zu vermeiden, heißt es jetzt, Vertrauen für hohe Veränderungsbereitschaft zu schaffen. Nur Ziele vorzugeben, reicht nicht mehr, sie müssen auch sinnstiftend sein und inspirierend vermittelt werden. Und über die notwendige Fach-Führungskompetenz hinaus wird für jeden entscheidend, die Grundlagen digitaler Technologie zu kennen und digitale Arbeitsmittel zu beherrschen.
Traditionelle Organisationen werden durch die digitalen Transformationen also mit kulturellen Herausforderungen konfrontiert, die lähmend und verlangsamend wirken, wenn sie nicht aktiv angegangen werden. Doch welche Themen sind konkret zu bearbeiten? Und gibt es gute Beispiele aus der Praxis dazu? Hierzu einige Anregungen.
Flächendeckender Aufbau digitaler Kompetenz
Im Idealbild des digital kompetenten Unternehmens berücksichtigen Mitarbeiter aller Bereiche und Ebenen digitale Möglichkeiten ganz selbstverständlich in ihrem Denken und Handeln. Digitale Pure Player tun sich hiermit leicht, denn meist sind digitale Optionen seit ihrer Gründung eng mit dem Geschäftsmodell verwoben. Unternehmen mit Wurzeln in pre-digitalen Zeiten müssen digitale Kompetenz jedoch gezielt aufzubauen.
Dies beginnt bei der Sensibilisierung für das Thema. Warum ist die digitale Transformation für meine Organisation relevant? Warum betrifft es auch mich als Mitarbeiter? Diese Basis sollte gelegt sein, bevor aktiv digitales Wissen und Commitment aufgebaut werden können. Dabei besteht die Herausforderung darin, wirklich Bewegung in die Organisation zu bringen. Der vermeintlich einfachste Weg, digitales Know-how extern zuzukaufen oder nur einzelne Personen mit dieser Aufgabe zu betrauen, erfüllt diesen Anspruch meist nicht. Wie meist beginnt das Thema bereits auf der Führungsebene. Den digitalen Wandel »nur« verbal zu propagieren, ist nicht ausreichend für eine grundlegende Entwicklung der Organisation. Die wesentlichen Entscheider müssen über ein gutes inhaltliches Verständnis verfügen, um die richtigen Themen in die Wege zu leiten, entsprechend zu vernetzen und in die Breite der Organisation zu tragen. Denn die Transformationsgeschwindigkeit wird durch das langsamste Glied in der Kette bestimmt. Wissen muss daher flächendeckend gestärkt werden, um zu vermeiden, dass ein topgeschultes Marketingteam nicht von anderen Bereichen blockiert und gebremst wird. Das heißt nicht, dass alle Mitarbeiter alles wissen müssen. Aber für jeden Bereich sollte ein klares Anforderungsprofil basierend auf dem digitalen Zukunftsbild des Unternehmens helfen, Mitarbeiter gezielt zu entwickeln.
L’Oréal setzt für den flächendeckenden Aufbau digitaler Kompetenz im Unternehmen seit 2012 im Rahmen der »Digitall«-Initiative auf ein umfassendes e-Learning-Programm.
»As indicated by the ›all‹ in ›Digitall‹, the programme is aimed at all employees. Each of its 8 modules is intended for all trades in all of the world’s regions. Their content is tailored to each country’s digital maturity«, sagt Céline Mien, Digital Programme Training Director bei L’Oréal. Die Trai-
nings bieten individuell zusammengestellte Module zu Spezialthemen, wie User Experience Design, Consumer Data und Precision Marketing, an. Der L’Oréal-Geschäftsbericht 2015 weist in einer eigenen Rubrik »Digital« mehr als 1 000 Mitarbeiter als digitale Experten aus. Mehr als ein Viertel der Netto-Medienausgaben des Konzerns entfallen auf digitale Kanäle, die E-Commerce-Umsätze stiegen um 39,7 %, und der digitale Umsatzanteil beträgt nun bereits 5,2 %.
Statt eines Schulungsprogramms setzen andere Unternehmen darauf, von anderen zu lernen. Zum Aufbau digitaler Kompetenz hat Procter & Gamble ein »Mitarbeitertausch«-Programm mit Google ins Leben gerufen. Google profitierte vom Marketing-Know-How des FMCG-Konzerns, während P&G-Mitarbeiter die volldigitale Arbeitsweise des Internetriesen aus erster Hand kennenlernen.
Doch es geht auch, ohne das Unternehmen zu verlassen: Bosch rief ein Reverse-Mentoring-Programm ins Leben, bei dem junge, digital-affine Mitarbeiter das Mentoring des Topmanagements übernehmen. Im Gegenzug profitieren sie von deren Managementerfahrung. Zusätzlich baut das generations- und hierarchieübergreifende Lernen Barrieren in der Organisation ab. Daneben setzt Bosch auch auf klassische Qualifizierungsprogramme und Digital Ambassadors als Multiplikatoren in allen Unternehmensbereichen.
Durchbrechen analoger Verhaltensmuster
Selbst digital affine und kompetente Konsumenten fallen in ihrer Rolle als Mitarbeiter häufig in analoge Verhaltensmuster zurück. Privat wird im Haushalt die neueste Technologie eingesetzt, online geshoppt und auf sozialen Netzwerken geliked und geshared. Ein und derselbe Mensch ist also privat häufig sehr viel digitaler als beruflich. Warum? Die Unternehmenskultur besteht aus einer Reihe von Verhaltensmustern. Über Jahre hinweg wurde dadurch geklärt, »wie wir die Dinge hier tun«. Das ist einerseits sinnvoll, da sie in der Organisation den gemeinsamen Rahmen für den gemeinsamen Arbeitsalltag setzen. Andererseits hemmen diese gelernten Verhaltensmuster jedoch Entwicklung und Wandel. Darum sollten pre-digitale Verhaltensmuster aktiv hinterfragt und bisweilen bewusst durchbrochen und durch neues Vorgehen ersetzt werden.
Ein paar Beispiele aus der Praxis: Es beginnt bei kleinen Dingen wie dem Zugang und der Nutzung digitaler Medien. So schafft die Schweizer Bahngesellschaft SBB Zugang zu digitalen Medien, indem sie ihre 30 000 Mitarbeiter mit mobilen Endgeräten ausstattet. Bei Kraft berichten CEO und Führungskräfte in »Kraft Cast« genannten eigenen Podcasts laufend über die neuesten Themen im Konzern. Best Buy, berühmt für seine hochqualifizierten Mitarbeiter im Verkauf, befähigt seine Mitarbeiter mit zeitlichen Ressourcen, technischer Ausstattung und entsprechenden Schulungen, diese Stärke aktiv in die digitale Welt zu übertragen: Über Twelp-force können Konsumenten Fragen tweeten und bekommen sie in Echtzeit von Best-Buy-Mitarbeitern beantwortet.
Vermeidung digitaler Inseln
Die digitale Transformation betrifft die gesamte Organisation – in der Realität gibt es in vielen traditionellen Unternehmen oftmals das Phänomen digitaler Insellösungen. Die IT arbeitet an der Infrastruktur, der Online-Shop wird mit externen Partnern gestaltet, unabhängig davon arbeitet die Marketingabteilung an einer Social-Media-Strategie, und der Vertrieb ist bei alldem nicht involviert, soll aber mit Unterstützung neuer Apps verkaufen oder das Online-Geschäft aktiv unterstützen. Doch isolierte Teilstrategien und Ad-hoc-Maßnahmen für den digitalen Wandel führen zu fehlenden Synergien, einem verlangsamten Transformationsprozess und im schlimmsten Fall zu konkurrierenden, inkompatiblen Systemen. Das gemeinsame Bild von der digitalen Zukunft fehlt den Mitarbeitern genauso wie das Verständnis füreinander.
Durch dieses »digitale Kleckern« gehen in vielen Unternehmen wertvolle Ressourcen verloren. Es fehlt die Koordination auf ausgewählte Schwerpunkte der digitalen Entwicklung, welche die Organisation wirklich am Markt differenzieren. Die Verantwortung für den digitalen Wandel sollte dabei auf oberster Ebene liegen. Bei der SBB verantwortet beispielsweise der CEO die digitale Strategie als Teil der Konzernstrategie. Bei L’Oréal ist der Chief Digital Officer als Teil des Executive Teams zuständig für alle digitalen Belange. Diese zentrale Verankerung ist auch deshalb wichtig, weil z. B. digitale Distributionskanäle bestehende Vertriebskanäle nicht selten kannibalisieren. »Wenn ein Geschäftsmodell verändert wird und das dazu führt, dass der herkömmliche Distributionskanal weniger verdient, dann ist es eine große Herausforderung, die internen Wiederstände in diesen Vertriebskanälen zu überwinden« (Leiter Digital Business Applications, Versicherungsbranche, St. Gallen Report). Hier gilt es, Lösungen zu finden, die den Blick auf den Gesamterfolg des Unternehmens richten. Beispielsweise die Online-Umsätze per Postleitzahl den entsprechenden Filialen zuzuordnen und einfach doppelt zu zählen – wie es bei vielen Handelsunternehmen inzwischen üblich wird.
Lernen, schneller zu lernen
Dass der Markt sich schneller wandelt, als sich die Organisation entwickeln kann, ist sicher eine der größten Herausforderungen des digitalen Wandels. Die kulturelle Fähigkeit der Organisation, neue Entwicklungen schnell zu antizipieren, wird somit zum zentralen Erfolgsfaktor. Statt dem gelernten Verhalten der Fehlervermeidung, Konzeptoptimierung, Rückversicherung und Risikovermeidung zu folgen, haben erfolgreiche digitale Unternehmen eine Kultur des konstanten Testens und Lernens etabliert. Sie gehen kalkuliert Risiken ein und machen mehr Fehler, finden dabei jedoch schneller heraus, welche Ansätze erfolgreich sind. Lernen muss also nicht nur schneller, sondern auch konstant erfolgen. Digitales Wissen veraltet schnell. Hat der neu eingestellte Chief Digital Officer vor sieben Jahren ein digitales Unternehmen aufgebaut, ist das von Vorteil – aber auch sein Wissen ist bereits veraltet. Auch Schulungen können nicht einmal durchgeführt und abgeschlossen werden. Das Zielbild lautet laufendes Training mit fortwährenden kleinen und kurzen Impulsen.
Die richtigen Mitarbeiter finden und binden
Der Aufbau digitaler Kompetenzen geht Hand in Hand mit dem Recruiting geeigneter Mitarbeiter. Und tatsächlich fällt es traditionellen Unternehmen schwer, sich im »War for talents« durchzusetzen. Die Ansprüche der Unternehmen sind hoch: Neben digitalem Wissen wird nach klassischer Management-Expertise und Führungskompetenz gesucht. Doch auch die Mitarbeiter sind anspruchsvoll – sie wollen ihre Ideen realisieren und nicht im Sumpf ewiger Abstimmungsrunden und Gremienfreigaben versanden. Um passende Kandidaten zu überzeugen, ist es nicht unerheblich, wie konsequent das Unternehmen den digitalen Wandel vorantreibt.
Doch seit Jeff Bezos die Washington Post übernommen hat, fällt es dem Medienhaus sehr leicht, die besten digitalen Köpfe zu rekrutieren – denn er steht glaubhaft für konsequentes digitales Denken und Handeln. Auch L’Oréal ist sich dieser Herausforderung bewusst und investiert intensiv in sein Profil einer digitalen Employer Brand: »It’s a question of investment; it’s a question of talent; and digital is hot right now – it’s precious, there’s a lot of turnover – so you have to recruit them, retain them, make them dream about your company. That’s really important«, sagt Lubomira Rochet, Chief Digital Officer bei L’Oréal.
Digitale Transformation als höchst sozialen Prozess aktiv steuern
Wenn es um die digitale Transformation geht, liegt der Fokus oftmals auf Investitionen in neue Technologien zur Weiterentwicklung interner Prozesse und digitalisierter Kundenerlebnisse. Die interne Verankerung neuer Denkansätze, Konzepte und Fähigkeiten in der Organisation kommt vielfach zu kurz oder geschieht nur punktuell. Das Resultat: Notwendiges Wissen, Commitment und Kompetenzen bei den eigenen Mitarbeitern fehlen. Die digitale Transformation ist jedoch – wie jede umfassende Weiterentwicklung einer Organisation – ein höchst sozialer Prozess, den es konsequent und sensibel zu gestalten gilt. Ohne aktive und nachhaltige Kulturarbeit ist erfolgreiche digitale Transformation nicht zu bekommen.